Der Begriff Autismus
Das Verständnis von Autismus unterliegt einem stetigen Wandel und wird fortlaufend an neue wissenschaftliche Erkenntnisse und gesellschaftliche Perspektiven angepasst. Während früher einzelne Diagnosen unterschieden wurden, wird heute vermehrt von einem „Autismus-Spektrum“ gesprochen. Dies berücksichtigt die Vielfalt der Ausprägungen und individuellen Besonderheiten von autistischen Menschen. Die Entwicklung der Begrifflichkeiten spiegelt sich auch in der Klassifikation wider: In der ICD-10 (ICD= Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) wurde noch von „tiefgreifenden Entwicklungsstörungen“ gesprochen, während die ICD-11 den Begriff „Autismus-Spektrum-Störung (ASS)“ eingeführt hat, um die Bandbreite der Merkmale besser zu erfassen. Da der ICD-11 derzeit noch nicht in Deutschland eingeführt wurde, finden sich als Diagnosen häufig noch die Begriffe „Frühkindlicher Autismus (F 84.0)“, „Atypischer Autismus (F 84.1)“ und „Asperger-Syndrom (F 84.5)“.
Nach derzeitigem Forschungsstand ist Autismus eine komplexe, lebenslange neurologische Entwicklungsbesonderheit, die das gesamte Leben eines Menschen prägt. Durch ein besseres Verständnis, frühzeitige Förderung und die Sensibilisierung des Umfeldes kann jedoch eine gute Teilhabe ermöglicht werden.
Typische Besonderheiten
Hier sind einige typische Besonderheiten, die jedoch nicht bei allen Menschen auftreten und sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können:
Besonderheiten in der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung
Viele Menschen im Autismus-Spektrum haben Schwierigkeiten, sowohl sensorische als auch optische und akustische Reize zu differenzieren und zu regulieren. Oft findet eine erhöhte Reizaufnahme statt, und es werden zunächst nur Details eines Objekts erfasst, bevor das große Ganze wahrgenommen wird.
In diesem Zusammenhang kann es zu sogenannten „Overloads“ kommen – einer Reizüberflutung, bei der das Gehirn nicht mehr in der Lage ist, die Vielzahl an einströmenden Sinneseindrücken zu verarbeiten. Dies kann zu einem „Meltdown“ führen, einer starken emotionalen oder körperlichen Reaktion auf die Überforderung. Dabei kann es sich um Weinen, Schreien, Rückzug oder stereotype Bewegungen handeln, die dazu dienen, mit der Situation umzugehen und die Reizbelastung abzubauen.Soziale Besonderheiten
Menschen im Autismus-Spektrum haben oft eine eingeschränkte Fähigkeit zur sozialen Interaktion. Es fällt ihnen schwer soziale Interaktionen zu erfassen, aufrechtzuerhalten oder aufzubauen. Meist fält es ihnen schwer sich anderen Menschen in Form einer „geteilten Aufmerksamkeit“ zuzuwenden und die Perspektive der anderen Person zu verstehen. Freundschaften zu schließen kann auch deshalb problematisch sein, da ihre Interessen üblicherweise eher sachbezogen sind. Trotzdem sind Menschen im Autismus-Spektrum fähig die inneren Zustände anderer Personen zu spüren.
Emotionale Besonderheiten
Menschen im Autismus-Spektrum erleben Emotionen häufig auf sehr intensive und individuelle Weise. Dabei kann es schwierig sein, diese Emotionen zu erkennen, zu kontrollieren oder angemessen auszudrücken. Dies kann zu Ängsten, emotionaler Instabilität oder auch zu stärkeren Reaktionen wie Selbst- oder Fremdaggression führen.
Für Bezugspersonen ist es hilfreich, solche Situationen mit Verständnis und Geduld zu begleiten. Ein sensibles Eingehen auf die Bedürfnisse der betroffenen Person und eine klare, verlässliche Kommunikation können dabei unterstützen, emotionale Belastungen zu reduzieren. Da Menschen im Autismus-Spektrum oft Schwierigkeiten haben, Gefühle in der Mimik oder Gestik anderer zu lesen, können zusätzliche Hilfestellungen – etwa durch deutliches Verbalisieren von Gefühlen – das gegenseitige Verständnis fördern und das Zusammenleben erleichtern.
Besonderheiten in der Kommunikation
Die Entwicklung der Kommunikation verläuft bei Menschen im Autismus-Spektrum sehr unterschiedlich. Sie reicht vom völligen Ausbleiben der Sprache, über Verzögerungen in der Sprachentwicklung, bis hin zu einer Rückentwicklung von bereits erlernter Sprache. Es kann zu sogenannter Echolalie kommen (das Wiederholen von Wörtern oder Sätzen des Gegenübers), aber auch kreative Wortneubildungen werden beobachtet. In allen Ausprägungen fehlt allerdings häufig die Möglichkeit einer wechselseitigen Kommunikation. „Small Talk“ oder auch Ironie wird von vielen Menschen im Autismus-Spektrum oft nicht verstanden und entsprechend als anstrengend empfunden.
Bedürfnis nach Routine und Regelmäßigkeit
Veränderungen machen vielen Menschen im Autismus-Spektrum Angst und rufen ein Gefühl der Hilflosigkeit hervor. Sie legen daher großen Wert auf einen gleichbleibenden Tagesablauf, beharren auf ihren Routinen und festen Ablaufplänen, die ihnen ein Gefühl von Sicherheit, Vertrautheit und Vorhersehbarkeit vermitteln. Dies kann auf ihr Umfeld aber häufig unflexibel oder zwanghaft wirken.
Motorische Besonderheiten
Oft beobachtet man eine eingeschränkte Körperbeherrschung und Beweglichkeit sowie ein unbeholfenes oder ungeschicktes Verhalten bei Körperbewegungen. Individuelle Probleme treten auch in der Feinmotorik und der Auge-Hand-Koordination auf. Mimik und Gestik sind häufig reduziert. Stereotype Bewegungsmuster dienen oft dem Stressabbau und helfen, sich zu beruhigen.
Unübliches Lernverhalten und spezielle Denkmuster
Viele autistische Menschen scheinen sich eigene Wege und Strategien beim Lernen zu erarbeiten (visualisiertes Denken und konkretes analytisches Denken) Es können Lernschübe auftreten, die oft mit individuellen Interessen verknüpft sind. Zum Teil zeigen sich starke Gedächtnisleistungen, sowie logisches, analytisches und visuelles Denken. Darüber hinaus sind aber auch kognitive Probleme zu beobachten, was die exekutiven Funktionen betrifft (Handlungsplanung, Prioritäten setzen etc.). Diese können zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Alltagsaufgaben führen. Die Fokussierung auf spezielle Themen und Interessen dient neben der Wissensbereicherung oft auch der Entspannung und Beruhigung, besonders in Stressituationen.
Autismus und Begleitdiagnosen
Menschen im Autismus-Spektrum haben häufig Begleitdiagnosen, die ihre individuelle Situation zusätzlich negativ beeinflussen können.
Zu den häufigsten gehören:
- ADHS/ADS – Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts)-Störung
- Psychische Erkrankungen wie Depressionen, Zwangserkrankungen, Angststörungen und weitere psychische Belastungen
- Epilepsie
Diese Begleitdiagnosen können den Alltag und das Wohlbefinden der Betroffenen erheblich beeinflussen, weshalb eine ganzheitliche Betrachtung und individuelle Unterstützung besonders wichtig sind.